Wenn Technik nicht mehr das tut, was sie dringend soll, hört man oft ein lautes: "Ich werf das Ding zum Fenster raus!" Selten, ganz selten passiert das dann auch.
Technik versagt früher oder später. Geht ein Gerät kaputt, wird es repariert oder weggeworfen. Ganz einfach. Nerviger sind Geräte, die noch ein bisschen funktionieren, zum Beispiel ältere Smartphones. Das Betriebssystem ist zwar weit davon entfernt, aktuell zu sein, der Akku hält nur noch zwei Drittel vom Tag, und weil die Standortbestimmung nicht mehr richtig funktioniert, klappen weder die Navigation noch die Taxi-App so richtig. Trotzdem benutzt man das Ding weiter. Es war ja teuer und treibt einen auch nur manchmal in den Wahnsinn. Wenn man irgendwann doch genug davon hat, ruft man laut: "Ich werf das Scheißding zum Fenster raus!", tut es aber dann doch nicht, sondern bestellt sich ein neues und trägt das alte zum Elektronikhändler, wo man es vorsichtig in die Recycling-Box legt.
Das Phänomen, ein schlecht funktionierendes Gerät zu behalten und sich darüber zu ärgern, ist nicht neu. In den 90ern war eine Quelle großer Nervereien die Computermaus. Dies ist die Geschichte meiner Maus, die tatsächlich aus dem Fenster flog und die nächsten 15 Jahre im Wipfel eines Aprikosenbaums verbrachte.
Es war das Jahr 1992 oder 1993. Computer kaufte man in der Zeit bei Vobis oder Escom. Die Entscheidung, wo sie erworben wurden, basierte zum einen darauf, ob man lieber ein wuchtiges, mit Colani-designten Rundungen versehenes Modell von Highscreen in der Farbe nicht mehr ganz computerbeige, mit Annäherung an Weiß haben wollte - oder ein schwarzes Slimline-Gehäuse mit rotem Logo.
Die andere Entscheidung war die zwischen den beiden Spitzenprozessoren: 486 DX 50 bei Vobis oder 486 DX2 66 bei Escom. Der DX2 war klar besser, aber damals umstritten, weil die Leistung "gecheated" war. Schließlich lief nur der Prozessor mit 66 MHz. Der Rest des Motherboards musste sich mit 33 MHz begnügen, während der DX 50 alles mit 50 MHz taktete.
In manchen Fällen fiel die Entscheidung auch schlicht, weil bei Escom am Tag des Computerkaufs ein Zettel mit der Aufschrift "Heute wegen Inventur geschlossen" in der Tür hing. Dann ging es eben zu Vobis.
Für den Computer, einen hochmodernen DX 50 mit DOS und Windows 3.1 oder 3.11 sowie ganz vielen Megabyte Platz auf der Festplatte, brauchte man neben einer Tastatur auch eine Maus. Sie war aus heute unbekannten Gründen nicht dabei, weshalb vom alten, in die Jahre gekommenen 286er ein gebrauchtes Exemplar weiterverwendet werden musste.
Das Rad war noch nicht erfunden
Die Maus, um die es hier geht, war ein eckiges Modell in traditionellem Computerbeige. Drei dunkelgraue Tasten obendrauf, ein Rad war noch nicht erfunden und unten leuchtete auch nichts. Stattdessen war dort ein Loch mit einer schweren gummierten Murmel drin und das Kabel endete auf der anderen Seite in einem neunpoligen RS232-Stecker für die serielle Schnittstelle, die am Computer festgeschraubt werden konnte.
Das große Problem an diesen Mäusen war die besagte gummierte Murmel, die statt einer heute üblichen optischen Lösung dazu diente, dem Computer die Mausbewegungen mitzuteilen. Damit sie das tun konnte, musste die Murmel frei rollen, durfte nicht ins Gleiten kommen und natürlich auch den Kontakt zur Oberfläche nicht verlieren. Das Benutzen einer solchen Maus war selbst unter perfekten Bedingungen eine kleine Herausforderung: Nackte Tischplatten waren zu glatt, Gleiches galt für Zeitschriften als Unterlage. Das Einzige, was wirklich funktionierte, waren Mauspads mit einer textilen Oberfläche, die meistens auf einer knapp einen Zentimeter dicken Matte Irgendwas aufgeklebt war.
Gummi auf Stoff + Reibung = Fussel
Alleine die Vorstellung einer gummierten schweren Kugel, die über eine textile Oberfläche rollt, während beide darauf ausgelegt sind, möglichst viel Reibung zu haben, damit die Kugel rollt und nicht gleitet, lässt selbst jüngere Leser wohl vermuten, was das zur Folge hat: Fussel. Genauer gesagt, an der gummierten Murmel klebende Fussel. Fussel, die sich zusammen mit Staub und anderen Partikeln der Matte in eine teerähnliche, leicht klebende Substanz verwandelten.
Klebten zu viele Fussel an der Kugel, rollte das Ding nur noch holprig. Irgendwann ruckelte der Mauszeiger nur noch über den 15-Zoll-Röhrenmonitor. Spätestens dann musste die Maus gereinigt werden.
Zum Glück konnte man die Kugel aus der Maus entfernen. Unter fließend Wasser ging die klebrige Masse ganz gut ab, größere Partikel konnte man mit dem Fingernagel abkratzen. Doch ein Blick in das Murmelfach offenbarte, dass sich der Mist nicht nur an der Murmel, sondern auch an vier kleinen Plastikrädchen absetzte.
Die Plastikrädchen waren dazu da, ebenfalls über die Kugel zu rollen. Es gab eines oben, eines unten, eines links und eines rechts, so dass die Kugel, wenn man die Maus zum Beispiel nach links bewegte, an das rechte Rad stieß und es somit drehte. Dieses Drehen der kleinen Plastikrädchen war das eigentliche Signal, das der Computer dann als Mausbewegung verarbeitete.
Auf diesen Rädchen setzte sich die klebrige Fusselmasse besonders gerne ab. Denn auch sie mussten ja an der Kugel ordentlich entlangrollen und durften nicht gleiten. Im Normalfall saß eine mehr oder weniger breite Linie klebriger Masse in der Mitte dieser Röllchen.
Das Problem dabei: An diese Röllchen kam man nicht gut heran, sie waren fest im Gehäuse verbaut, saßen in den Wänden des daumenkuppelgroßen Murmelfachs und von ihrer Oberfläche war immer nur höchstens an ein Viertelchen heranzukommen.
An den Röllchen klebte das Zeug so richtig fest, abwischen ließ es sich nicht, und man konnte schlecht die ganze Maus unter Wasser halten. So bestand die einzige Reinigungsmöglichkeit darin, das Zeug mit einem in Alkohol oder Fensterklar getränkten Wattestäbchen mehr oder weniger abzukratzen. Abkratzen, weiterrollen, abkratzen, weiterrollen, bis irgendwann wieder Rädchen ohne Belag erschienen, das Ganze viermal.
Dadurch, dass die Prozedur aus eher mehr statt weniger Abkratzen bestand, bildeten sich im Laufe der Zeit auf diesen Rollen kleine Riefen. Je mehr es wurden, desto weniger flüssig rollte die Murmel. Irgendwann ruckelte und zuckte die Maus unkontrolliert - und zwar auch im frisch gesäuberten Zustand.
Weil Mäuse aber nicht gerade billig waren, bestand die elterliche Reaktion auf "Wir brauchen eine neue Maus" unweigerlich aus einem fröhlichen "Ach Quatsch, der Mauszeiger bewegt sich doch. Muss man nur mal richtig saubermachen." Einwände wie "Sie ist sauber" und "Das Ding macht mich wahnsinnig" wurden nicht gehört - weswegen die Sache forciert werden musste: Die Maus flog aus dem Fenster. Und zwar gut gezielt aus dem Dachfenster des Reihenhauses in den Wipfel eines riesigen Aprikosenbaumes, wo sie sich wunschgemäß verfing.
Weil der Baum zu groß für die längste verfügbare Leiter war, gab es auch kein Drankommen. Die Maus blieb im Baum, eine neue musste her. Das ging dann plötzlich ohne Probleme - zwar zur Strafe taschengeldfinanziert, aber mit essenziellem elterlichem Transport. In den darauffolgenden Wintern konnte man die im Baum vom Wind getriebene Maus schwingen sehen.
Als der Baum fiel, landete die Maus in einer anderen Zeit
Der Aprikosenbaum aber musste irgendwann weg - ein Bauvorhaben beanspruchte seinen Platz. Doch als der Baum fiel und die Maus endlich geborgen werden konnte, war sie in einer ganz anderen Zeit gelandet: Mäuse hatten Mausräder, waren außerdem für nur 5 Euro erhältlich. Computer hatten keine serielle Schnittstelle mehr, und das Konzept, eine Murmel zur Registrierung der Bewegung zu verwenden, war nun allgemein anerkannt als Zumutung eingestuft. Daher blieb es auch zum Glück aus, dass irgendein schlauer Fuchs geraten hätte: "Die kann man bestimmt noch verwenden, muss man nur saubermachen."
Doch eines ist aus der Episode geblieben - nicht die Maus zwar, auch nicht der Computer und nicht der Aprikosenbaum. Nicht einmal das Dachfenster. Aber wenn ich jetzt sage, "Ich werf das Scheißding zum Fenster raus" werde ich ernst genommen. Manchmal selbst vom Tintenstrahldrucker, der mit etwas eingetrockneter Tinte eine halbe Stunde lang zickt - und danach plötzlich und endlich wieder funktioniert.
Denn was einmal wirklich passiert ist, das könnte ja wieder passieren.
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