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Alain Damasio „Die Flüchtigen“: Die Technik und die Geister des Jahres 2040 - Frankfurter Rundschau

  • VonStefan Michalzik

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Alain Damasios ausufernder Roman „Die Flüchtigen“ blickt in die nahe Zukunft einer liberrepressiven Gesellschaft.

Es ist eine Welt der umfassenden Ausspähung, von der dieses Buch erzählt. Jeder Gegenstand ist mit einem Chip versehen und kommuniziert mit Milliarden von anderen Objekten. Der Straßenbelag ist mit taktilen Kacheln versehen, es gibt „Mechanoiden“ mit der Spürfähigkeit von Hunden und „Intekten“, eine Entsprechung zu Insekten, sie taugen gut zur Bespitzelung. Den Kommunikationsring, eine optimierte Version der aktuellen mobilen Kommunikationsgeräte, kann man zwar zu Hause lassen oder für eine Weile mittels Alufolie abschirmen. Damit macht man sich aber verdächtig.

Das modische Wort von der Dystopie ist gegenwärtig für viele Romane schnell zur Hand. Natürlich ist es unsere Gesellschaft, die der französische Schriftsteller, Musiker und Videospielentwickler Alain Damasio, Jahrgang 1969, in seinem Roman „Die Flüchtigen“ beschreibt, lediglich in einer zugespitzten Form. 2019 kam das Buch in Frankreich heraus, nun liegt es in Milena Adams Übersetzung auf Deutsch vor. In der nicht allzu fernen Zukunft, in der die Geschichte spielt – im Jahr 2040 in der französischen Provinzstadt Orange –, liegen die Dinge in vielen Belangen kaum mehr als einen Tick anders als bei uns.

Die Stadt war pleite, seither gehört sie einem Konzern gleichen Namens, der Bürgermeister wird von den Aktionären bestimmt. Die Welt ist hochtechnisiert, ein Faschismus der Daten und Drohnen herrscht wie in vielen Science-Fiction-Romanen, in diesem Fall kombiniert mit einem Schuss Phantastik in Gestalt einer Art Geistergeschichte.

Damasio zeichnet das Bild einer unverblümt krassen Klassengesellschaft. Die Hauptachsen der Stadt sind zu Stoßzeiten für jene, die sich nicht mehr als den Premium- oder sogar nur den Standardtarif leisten können, gesperrt, damit die Reichen – Platin – sich ungehindert fortbewegen können. Diejenigen, die selbst für den Standardtarif zu arm sind, hat das Unternehmen weitgehend aus der Stadt getrieben. Vom „schmutzigsten Liberalismus“ ist an einer Stelle die Rede, von einer „liberrepressiven Gesellschaft“ im Zeichen eines fortschreitenden Ökozids – die Erde erwärmt sich ungehindert rasant.

Das Buch:

Alain Damasio: Die Flüchtigen. Roman. A. d. Franz. v. Milena Adam. Matthes & Seitz, Berlin 2021. 838 S., 28 Euro.

Die Hauptfigur, Lorca, ist widerständlerisch orientiert. Seine kleine Tochter Tishka ist auf rätselhafte Weise verschwunden. Er hält an dem Gedanken fest, dass sie noch lebt, seine Frau Sahar hat sich deshalb von ihm getrennt. Im Ansinnen, die Tochter zu finden, hat sich Lorca bei einer geheim operierenden Spezialeinheit des Militärs zum „Flüchtigenjäger“ ausbilden lassen. Die Flüchtigen sind Meister der Camouflage – ein technisch nicht ohne weiteres greifbarer subversiver Untergrund. Lorca vermutet, dass sich Tishka in eines dieser unsichtbaren hybriden Tierwesen verwandelt hat.

Protestbewegungen und Hackern, obschon sektiererisch zersplittert, gelingen im Zusammenspiel mit den Flüchtigen gewisse Terraingewinne. Das erscheint als ein guerilla- bis bürgerkriegsartiges Galliertum gegen die technologisch erdrückend überlegene Übermacht. Eine eigene Rolle spielt die Musik, besonders die des balinesischen Gamelanorchesters. Mittels eines „Jusion Fazz“, einer Klangaktion auf der Basis nachgeahmter Tierstimmen, holen die Flüchtigen zum – lokal begrenzten – Schlag gegen die privatisierten Milizen aus.

Die Erzählperspektiven rotieren ständig zwischen den wichtigsten Figuren. Das Schriftbild eines Teils der Ich-Erzähler ist individuell mit Akzenten versehen; sprachliche Dreher, zum Beispiel „Lanzgleistungen“ oder „Strieselkand“, signalisieren den Beginn einer Hybridisierung. Mit einer allenfalls rudimentären Individualität sind Damasios Figuren ausgestattet, insoweit stellt sich der Roman genrehaft dar.

Stellenweise liest sich das zäh, ein ermüdendes Klein-Klein von technischen Details und strategischen Winkelzügen in spröder Ausführlichkeit. Eine erhebliche Straffung der sich einfach nicht rechtfertigenden 800 Seiten hätte diesem Brocken, zu dessen formalen Mitteln auch die fiktive „Dokumentation“ von Fernsehkommentaren und Zeitungsberichten gehört, zum Besseren gereicht.

Damasio benutzt die Zukunft als Objektiv, um das Bild der Gegenwart in einer quasi satirischen Gesellschaftsanalyse scharfzustellen, die graswurzelhaften subversiven Kräfte inbegriffen. Offenheit, Gelassenheit und Bescheidenheit im Umgang mit unterschiedlichen Lebensmodellen lässt er Lorca den Fraktionen des alternativen Gesellschaftsmodells einer Selbstverwaltung empfehlen. Das riecht arg didaktisch.

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