Wenn das Licht angeknipst wird, blickt das Publikum auf einen Sträfling. Verblüfftes, irritiertes Gelächter ist im Theatersaal zu hören. Das orangefarbene Unterhemd vollgekleckert, der Schädel kahl geschoren und voller blutiger Schrunden, die Füße in zerrupften Socken, so sitzt der Schauspieler Ulrich Matthes auf einem Wartezimmerplatz in einer langen Stuhlreihe.
Wie ein Panzerknacker im Comic sieht dieser Kerl aus, das Abziehbild eines Schurken. Und er scheint, während ein freundlicher und adrett gekleideter junger Mann (Jeremy Mockridge) auf ihn einredet, selbst erst langsam zu begreifen, dass er an diesem Tag gar nicht als Angeklagter, sondern als Richter in einem schönen Dorf im Holländischen auftreten soll.
»Es geht bunt alles über Ecke mir / Ist nicht auch heut Gerichtstag?«, sagt der Richter Adam in Heinrich von Kleists Lustspiel »Der zerbrochne Krug« aus dem Jahr 1811. Das Stück erzählt von einem Missbrauchstäter. Der alte, in einem kleinen Kaff namens Huisum über die Zwistigkeiten seiner Mitmenschen urteilende Dorftyrann Adam hat versucht, das Mädchen Eve zum Sex zu erpressen. Er ist unter einem Vorwand in ihr Zimmer eingedrungen und wurde, als er die junge Frau angriff, von deren Verlobtem Ruprecht verscheucht und verprügelt, in der Dunkelheit aber nicht erkannt.
Mit eiskaltem Hohn und echtem Amüsement wird hier auf den Täter geblickt
Tags darauf soll vor Gericht über die Zerstörung des Krugs, den er selbst bei seiner Attacke und Flucht zerdeppert hat, entschieden werden – und Adam will die Schuld einem anderen zuschieben. Dass ihm das misslingt, ist allein dem Überraschungsbesuch des Gerichtsrats Walter zu verdanken, der den Richter kontrolliert und als Verbrecher überführt. »Was Kleists Drama zur Komödie macht, ist vor allem die Dreistigkeit, mit der hier vom Patriarchat Macht ausgeübt und Verhältnisse zementiert werden«, heißt es im Programmheft des Deutschen Theaters.
In Anne Lenks Inszenierung des »zerbrochnen Krugs« ist die Figur des Ermittlers Walter zu einer Frau ummodelliert. Sie wird von der jungen Schauspielerin Lorena Handschin gespielt. Ihre Gerichtsrätin Walter trägt einen blonden Topfhaarschnitt und ein sonniges Lächeln im Gesicht. Auch der Schwangerschaftsbauch, der sich unter Frau Walters Latzhose wölbt, könnte aus Sicht alter weißer Männer signalisieren, dass von dieser Frau Härte und Unerbittlichkeit eher nicht zu erwarten sind.
Natürlich erweist sich das Gegenteil als richtig. Handschins Gerichtsrätin blickt auf Matthes' Richter Adam und dessen Rechtsbruch mit eiskaltem Hohn und echtem Amüsement. Als er sie mit Wein abfüllen will, stößt sie mit ihm an und schüttet das Zeug, sobald er wegguckt, achtlos auf den Boden. Sie lacht ihn aus, geradezu fasziniert von der Rückständigkeit und Dummheit, der sie hier begegnet.
Bei der Premiere am Samstagabend sitzen die gerade von ihren Ämtern befreiten Politikerinnen Angela Merkel und Monika Grütters in einer der vorderen Parkettreihen des Deutschen Theaters. Sie sehen eine feministische Komödie. Und, das ist vielleicht der Clou des Abends, eine völlig empörungsfreie Aufführung.
Die Regisseurin Anne Lenk ist Anfang 40 und in den vergangenen Jahren mit einigen herausragenden Inszenierungen aufgefallen, darunter eine »Maria Stuart« in Berlin und eine »Phädra« in Nürnberg. Zu Recht gelobt wird sie für die Genauigkeit ihres Blicks auf literarische Texte und ihre klare, geduldige Arbeit mit Schauspielerinnen und Schauspielern. »Bei mir gibt es keine Zufälle, es ist alles gesetzt und geführt«, hat Lenk in einem Interview gesagt. »Und obwohl ich mit fremden Stoffen arbeite, erzähle ich in Wahrheit viel über mich selbst. Wenn ich schreiben könnte, würde ich schreiben, aber das kann ich nicht. Deshalb arbeite ich mit Texten, die berühmte Männer geschrieben haben, und versuche, meinen Frieden mit ihnen zu finden.«
Nicht mal im Augenblick der Enttarnung überkommt den Richter der Schrecken
Im Fall des Autors Kleist und des klassischen Lustspiels »Der zerbrochne Krug« gelingt Lenk ein klug austariertes, oft schamlos komisches 90-Minuten-Kunststück. Es ist eine Feier der wunderbar verdrehten kleistschen Sprache, manchmal auch bloß eine hinreißende Blödelei. Als folge sie der Fußballfan-Hymne »Hup, Holland, hup!«, hat die Kostümbildnerin Sibylle Wallum die Frauen und Männer auf der Bühne sämtlich in orangefarbene Kleider und Pseudo-Trachtengewänder gesteckt. Die Wartesaalbühne (Judith Oswald) wird dominiert von einem riesigen Stilllebengemälde aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, das außer Schinken, Austern und Trauben einen Papagei zeigt.
In vielen »Krug«-Inszenierungen ist der Richter Adam ein finsterer, gefährlicher Erzschuft. In einer berühmten, von Peter Stein erarbeiteten Version des Kleist-Stücks wütete der Darsteller Klaus Maria Brandauer in der Titelrolle von 2008 bis 2017 im Berliner Ensemble als grandioser Berserker, während zwölf echte Hühner auf der Bühne herumhüpften.
Der Dorfrichter Adam des Schauspielers Matthes dagegen ist ein tiefenentspannter, weicher, oft wie bekifft grinsender Unbelehrbarer. So lang ist dieser Kerl es gewohnt, immer und überall mit seinen Lügen durchzukommen, dass ihn nicht mal im Augenblick der finalen Enttarnung irgendein Schrecken überkommt. Man kann auch sagen: Er ist kein irgendwie interessanter Täter, sondern ein erledigter Fall, eine Witzfigur. Auch deshalb sind die Frauen, die ihn anklagen, nach Art der Commedia dell'arte als Typen-Spaßmacherinnen ausstaffiert. Eve (Lisa Hrdina) hat sich Hasenzähne aufgesteckt. Ihre Mutter Marthe (Franziska Machens) ist in einen ulkigen Schlauchrock gezwängt. Die Nachbarin Brigitte (Julia Windischbauer) trägt eine Clowns-Spitznase im Gesicht.
Es ist eine Party in Grellorange, die die Regisseurin Lenk hier präsentiert, eine Triumphsitzung über den #MeToo-Schurken Adam, der seiner gerechten Strafe zugeführt werden muss. Zwischen den Szenen erlischt das Licht, Jazzgetrommel ist zu hören – und am Ende jubelt das Publikum im erleuchteten Saal, als seien die finsteren Zeiten des Patriarchats für alle Zeiten vorbei.
»Der zerbrochne Krug«, Deutsches Theater Berlin, nächste Vorstellungen am 19. und 26.12. (ausverkauft) sowie am 31.12., 7., 11., 21. und 25.1.
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