Das Pferd zu spüren ist die Grundlage
Gibt es denn eine Art „Technik-Gefühl“- Lehr- bzw. -Lern-Rezept? Nein. Denn jede:r Reiter:in ist anders. Jedes Pferd als Spiegel des Menschen ist anders. Jede Reiter:in- Pferd-Kombination ist anders. Und jede Reitsituation ist anders. Ein kleines Kind zum Beispiel oder ein kurzbeiniger, vielleicht etwas pummeliger Reiter wird auf einem dickbäuchigen Pferd nicht optimal zum Sitzen kommen können. Wie soll sich dann noch Bewegungsgefühl einstellen und entwickeln? Oder wie soll die Reiterin eines andauernd bockenden Pferdes wie gemalt im Sattel sitzen und sich dabei noch freundlich lächelnd entspannen? Wer unterrichtet, sollte sich also immer an den aktuellen Gegebenheiten orientieren und sich fragen: Wen habe ich vor mir? Ein Kind, einen Erwachsenen, eine ängstliche Reiterin, einen Anfänger oder eine Sportreiterin? Und was für ein Pferd? Ein gut oder schlecht ausgebildetes Schul- oder Privatpferd? Ein Freizeitpferd, ein Sportpferd, einen Faulpelz oder einen Buckelkönig? Denn sowohl das Erlernen der Reittechnik als auch des Reitgefühls hängt maßgeblich von den individuellen Gegebenheiten ab. Wenn kleine Kinder beispielsweise eher von Bewegung und durch Bewegung intuitiv lernen, dann sollte man diese Bewegung auch zulassen und sie nicht in ein starres Sitzkorsett – Kopf hoch, Absatz tief, Beine lang – pressen.
Und je mehr Bewegungsabläufe zugelassen, je mehr Bewegungsangebote gemacht werden, desto eher können sie vom Gehirn abgespeichert und irgendwann auch bewusst abgerufen werden. Ein Grund, warum eine vielseitige Reitausbildung so wichtig ist. Denn es macht schon einen Unterschied, ob man ausschließlich auf einem ebenmäßig geschleppten Reithallenboden im Dressursitz seine ruhigen Runden dreht und den Anweisungen des/der Reitlehrer:in lauscht oder aber auch mal über Stock und Stein, bergauf und bergab, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Sitzweisen im Sattel – oder auch mal ohne – die Welt erkundet oder über Hindernisse reitet. Vor allem kindliche und jugendliche Reitschüler: innen sollten deshalb erst einmal erfühlen dürfen, was auf dem Pferderücken geschieht. Sie sollen sich und das Pferd spüren, Bewegung fühlen, intuitiv reagieren und auch mal Fehler machen dürfen.
Wer zu viel denkt …
Und Erwachsene dürfen das nicht? Natürlich dürf(t)en sie, aber es fällt ihnen schwerer. Erwachsene wollen meist erst verstehen, was sie da tun und wie sie es tun sollen. Darüber hinaus haben Erwachsene häufig Bedenken: Fehler zu machen, sich zu blamieren, dem Pferd zu schaden oder sich bei einem möglichen Sturz zu verletzen. Das Denken steht hier zulasten des Fühlens meist an erster Stelle.
Typisches Beispiel ist die Aufforderung der Reiterlehrerin an ihren Schüler, eine bisher noch nicht gerittene Lektion zum ersten Mal zu versuchen, zum Beispiel eine Kurzkehrtwendung. Den meisten jugendlichen Schüler:innen reicht der Hinweis: „Dabei wendet die Hinterhand um die Vorhand“ – und sie versuchen es ohne große Erklärung. Erwachsene Reitschüler:innen werden dagegen meist fragen: „Und welche Hilfen muss ich dazu geben? Wohin muss ich stellen? Wie wirken meine Schenkel ein? …“ Das heißt aber nicht, dass erwachsene Reitanfänger oder Reitschülerinnen gleich auch schlechter lernen, sie lernen einfach anders als Kinder.
Und auch im höheren Alter gibt es durchaus Umstände, die sich sehr vorteilhaft aufs Lernen auswirken. So können sich Erwachsene länger konzentrieren, sie können Erklärungen des/der Reiterlehrer:in verstehen, vielleicht sogar auf Erfahrungen zurückgreifen und auch zielgerichteter agieren. Trotzdem sollten auch erwachsene Reiter:innen versuchen, hin und wieder den Kopf „auszuschalten“ und sich aufs Fühlen einzulassen. Und Ausbilder:innen dürfen sich nicht in unendlichen Erklärungen verlieren, denn die können auch Erwachsene letztlich gar nicht mehr nachvollziehen und umsetzen.
Immer häufiger hört man zum Beispiel pseudowissenschaftliche Reitanweisungen an – meist unerfahrene – Reitschüler:innen: „Du musst mit deinem linken, dreieinhalb Zentimeter zurückgelegten Schenkel anderthalb Sekunden vor Abfußen des äußeren Hinterbeins eine Druckerhöhung von 0,5 Pascal einsetzen, um das Vorschwingen des Hinterhufs um …“ Wenn diese Formulierung zur Veranschaulichung auch ein wenig übertrieben ist, so werden viele Reitschüler:innen mit Anweisungen und Informationen tatsächlich so überfrachtet, dass einfach kein Platz mehr fürs Fühlen bleibt. Dabei müssen Reiter:innen ihren eigenen Körper und den des Pferdes fühlen, um überhaupt zu sinnvollen Einwirkungen kommen zu können!
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