Schwer zu sagen, ob das nun nur persönliche Mürbbefindlichkeit ist oder ob es schon zum kollektiv-ausgedörrten Trendgefühlchen taugt, jedenfalls: War man irgendwann schon mal empfänglicher für komplett selbstbezogenen Bubblespaß, waren die Schmunzelreserven je empfindlicher abgeschmolzen als gerade? Bei allen traditionellen, gelegentlich auch tatsächlich politischen Rangeleien im Vorfeld des Wettbewerbs rührt einen der Eurovision Song Contest in diesem Jahr als dennoch beständige Bastion der Arglosigkeit und Rundreise durch ein erfundenes Eskapismus-Europa ganz besonders.
Das erste Halbfinale war der Auftakt in diese Zeit, in der das Rüschen wieder hilft, in der Goldgewänder als casual durchgehen und die extremen Gefühle verlässlich nur gespielt sind. Von 16 angetretenen Ländern wurden zehn ins Finale am Samstag weitergeschickt, und das waren in diesem Jahr tendenziell eher nicht die überlebensgroß verballadierten Sehnsuchtsschluchzer, die darauf vertrauten, dass eine gut ausgeleuchtete Stimme allein das Publikum schon ausreichend in Wallung versetzen würde.
Eben jenes »Here I Stand« von Vasil aus Nordmazedonien, dessen Isoliertheit ihn trotz Discokugelwams aus dem Wettbewerb kegelte – sein Lied könnte dennoch wunderbar als klassischer Disneyfilm-Tränenmelker in die Instant-Emotionalisierungsindustrie eingespeist werden. Rumänien wurde womöglich zum Verhängnis, dass das eigentlich ja positive Eigenliebe-Plädoyer des Beitrags von trübe einherkriechenden Tänzern schwerfällig versumpft wurde, während die ebenfalls abgewählte Irin Lesley Roy zu gehetzt durch die arg etsymäßige Analogkulisse singholperte.
Der Eurovision Song Contest 2021 findet in Rotterdam statt, weil die Niederlande 2019 den Wettbewerb gewannen (»Arcade« war das siegreiche Lied, gesungen von Duncan Laurence). 2020 fiel der Song Contest pandemiebedingt aus, es gab nur eine Trostpflastershow ohne Wettstreit.
Diesmal haben die Niederlande die Show in der Ahoy Arena in ihr Programm der Fieldlab Events aufgenommen – Modellversuchen zur Öffnung von Veranstaltungen unter Coronabedingungen. Deshalb sollen bis zu 3500 Fans in die Halle kommen dürfen, 20 Prozent ihres eigentlichen Fassungsvermögens.
Die Delegationen aus den 39 Teilnehmerländern sind angereist – mit einer Ausnahme: Australiens Vertreterin Montaigne wurde nicht nach Europa geschickt. Von ihr wird der »Live on Tape«-Auftritt gezeigt, den alle Nationen aufgezeichnet haben. Er käme auch im Fall einer Quarantänepflicht eines anderen Kandidaten zum Einsatz.
Bei den Auftritten auf der Bühne gibt es 2021 eine Neuerung: Erstmals muss nicht jeder Hintergrundgesang live dargeboten werden; es dürfen auch Stimmen und Chöre zum Backing-Track hinzugefügt werden. Der Hauptgesang muss weiterhin live sein. Eine Regeländerung, die den Showaspekt bestärken dürfte.
Selten konnte man treffsicherer prophezeien als in diesem Jahr, welche Länder es ins Finale schaffen würden: Natürlich Norwegen, für die Tix gegen den ausgemergelten Minimalismus-Geist zum Mehr-ist-mehr-Gegenschlag ausholte: Als sonnenbebrillter Eisbär-Engel mit Namensstirnband und in sechsfacher Hausdämonenbegleitung porträtierte er sich in einem so schlichten wie sonderbar haftfesten Popliedchen als »Fallen Angel«. Die russische Teilnehmerin Manizha entstieg im roten Boilersuit einem fahrbaren Zeltkleid, in dem sie zuvor wie ein folkloristisch herausgeputzer Dalek über die Bühne gerollt war – von ihrer überzeugend kraftvollen, empowernden Botschaft mit ihrem Song »Russian Woman« einmal abgesehen war dieser Move wohl der effektvollste bühnendramaturgische Einfall dieses Abends.
Erfolgreich war auch die dicht geschnürte Referenzroulade des Beitrags aus Aserbaidschan, für das Efendi über »Mata Hari« sang – und in ihrem Lied eben nicht nur mit einem kleinen Textzwinkerer auf »Cleopatra« verwies, dem Lied, mit dem sie schon im vergangenen Jahr hätte antreten sollen, sondern ihr stammelpoppiges »Ma-ma-ma-ma« auch von Lady Gagas »Poker Face« borgte.
Und natürlich verwies sie mit ESC-klassischer Geschichtsfrivolisierung in Zeilen wie »I'm a liar / Playing the game of desire« auch auf Veteranen des Wettbewerbs wie Dschingis Khans »Er zeugte sieben Kinder in einer Nacht«. So wie Destiny, die für Malta mit »Je me casse« weiterkam, sowohl mit ihrer Textzeile »I’m not your baby« als auch in Sachen Wummsigkeit auf Nettas Siegertitel »Not your toy« von 2018 verwies.
Den zweiten Gaga-Klau des Abends lieferte der Zypern-Beitrag von Elena Tsagrinou, die einem mit »El Diablo« nicht nur den dreistesten Ohrwurm einpfropfte, sondern mit ihrer Liebeserklärung an den Teufel auch schon einen aussichtsreichen Anwärter für das nächste Lied zum bald ja wieder möglichen Satanisten-Kluburlaub vorlegte.
Die spaßige Umdeutung coronöser Vereinzelung brachte die litauische Heimtanzhymne »Discoteque« von The Roop weiter, der höchst dynamische ukrainische, beatunterlegte »Shum«-Schreigesang von Go_A rächte endlich das polnische Leierplärrquartett von Tulia, das es 2019 unverständlicherweise nicht ins Finale schaffte. Stabile, wenn auch weniger spektakuläre Weiterkommer waren auch Schweden und Belgien (wobei Letztere die beim allgemeinen ESC-Bombastwillen fast schon trotzig Küchenspülen-banale Zeile »You get up 'cause you need an organic cup of tea« abliefern). Dass sich beim ebenfalls ins Finale gewählten israelischen Beitrag von Eden Alene die außer-eurovisionale Wirklichkeit an diesem Abend schließlich gedanklich doch nicht ganz ausblenden ließ, wenn sie ihre Liebschaft mit Zeilen wie »Set me free / Feel my beating heart in perfect harmony« beschwört, ist bei aller Sehnsucht nach einem kurzzeitig übergestülpten Heilewelt-Filter ein nötiger Realitätsanker – so erholsam der ESC als Parallelwelt auch sein mag.
Zweites Halbfinale im TV bei ONE, Donnerstag, 20. Mai, 21 Uhr, Finale im TV bei der ARD, Samstag, 22. Mai, 21 Uhr und im Liveblog bei SPIEGEL.de
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